Man mag über den Stil amerikanischer Musicals denken, wie man will: Unbestritten bleibt, daß sie es oft schaffen, wichtige Lebensthemen eindrucksvoll zu vermitteln. Das gilt in ganz besonderer Weise für das Musical „Anatevka – der Fiedler auf dem Dach“.
Der Inhalt des Musicals geht auf die Geschichten „Tevje der milkhiger“ des jiddisch schreibenden Dichters Scholem Jankew Rabinowitsch (1859-1916) zurück, der unter seinem Pseudonym Scholem Alejchem bekannt geworden ist. Diese Vorlage von „Tevje dem Milchhändler“ inspirierte verschiedene amerikanische Künstler zu einem abendfüllenden Bühnenwerk, welches am 22. September 1964 auf dem New Yorker Broadway uraufgeführt wurde und von dort aus in die ganze Welt ging, selbst in die damalige DDR. Zwischen 1971 und 1988 lief es, dank der Inszenierung Walter Felsensteins, in der „Komischen Oper“ Berlin, wo ich damals das Glück hatte, es zu sehen.
In Leipzigs „Musikalischer Komödie“ wurde es 1991 erstmalig aufgenommen und hatte nun am 11. Februar 2023 erneut Premiere. Wir erlebten die Aufführung am 26. November.
Auf Grund der vielfältigen künstlerischen Mittel (Sprachtexte, Sprechgesang, Lieder, Instrumentalstücke, Chöre, Tänze, bis hin zur Akrobatik) gelingt es dem Musical, ein Gesamtbild des jüdischen Lebens in einem osteuropäischen „Schtetl“ (in dem fiktiven Ort „Anatevka“) zu zeichnen. Ein Thema durchzieht dabei von Anfang an das Stück: das Thema „Tradition“.
Für die Einwohner Anatevkas ist es selbstverständlich, die Gewohnheiten ihres jüdischen Glaubens zu bewahren. Dabei fragen sie nicht nach den Ursprüngen jener Riten, sondern praktizieren sie einfach. – Das bringt große Vorteile mit sich. Zum einen entwickeln sie eine lebendige Gottesbeziehung, wie sie sich unnachahmlich in den humoristisch-vertrauten Gebeten Tevjes zeigt. Zum anderen aber ermöglichen sie ein festes menschliches Miteinander. Am eindrücklichsten wurde mir dies bewußt bei dem gesungenen Gebet zur Eröffnung des „Schabbes“. Da verbindet sich jüdische Spiritualität mit enger familiärer Zusammengehörigkeit.
Es wäre nun aber ein Irrtum, wollte man annehmen, daß diese Traditionen ein problemloses Leben garantieren. Gerade Tevjes Familie ist dafür ein Gegenbeispiel. Von seinen fünf Töchtern sind drei im heiratsfähigen Alter, und für Tevje (wie auch für seine Frau Golde) ist es „Tradition“, daß er als „Hausvater“ die potentiellen Ehepartner auswählt. Seine Töchter aber möchten jeweils den Mann heiraten, den sie lieben, ob es nun ein armer Schneider, ein Anarchist oder ein Nichtjude ist. Da tut sich Tevje schwer, den Willen seiner Töchter zu akzeptieren. Aber: Er begreift schließlich, daß Liebe einen höheren Wert darstellt als rituelle Gesetzmäßigkeiten. In einem berührenden Duett gestehen sich Tevje und Golde ihre tiefe Liebe, die auch nach 25 Jahren nicht erloschen ist. – Auch von außen kommen Probleme auf die Einwohner Anatevkas zu, nicht zuletzt die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung im Vorfeld der russischen Revolution von 1905. Am Ende müssen sie sogar ihren Ort verlassen.
Umrahmt wird das Musical von einer imaginierten Gestalt, dem „Fiedler auf dem Dach“. Immer einmal wieder, an verschiedenen Stellen spielt er auf der Geige melancholisch-schöne Melodien. Daß er nicht nur den Beginn, sondern auch den Schlußpunkt setzt, gibt dem Ganzen eine unsagbare Hoffnung.
Es wäre mein Wunsch, daß dieser Leipziger Inszenierung noch eine lange Zukunft beschieden ist; denn sie besticht durch hohe Qualität. In dieser Saison gibt es leider nur noch eine Aufführung am Mittwoch, 13. Dezember 2023, um 19.30 Uhr. Wärmste Empfehlung für alle Kurzentschlossenen!
Eberhard Thieme