Spätestens seitdem ihm anno 2010 der Romano-Guardini-Preis verliehen wurde, ist der tschechische Geisteswissenschaftler Tomas Halik (geb. 1948) auch in Deutschland bekannt. In den vergangenen Jahren sind von ihm, dem katholischen Priester und Soziologie-Professor, mehrere Bücher erschienen, in denen es ihm um einen authentischen christlichen Glauben geht. So auch in seinem neuen Buch „Der Nachmittag des Christentums“.
„Eine Zeitansage“ nennt Halik im Untertitel sein Buch. Und tatsächlich schürft er mit wahrer Gründlichkeit nach den „Zeichen der Zeit“. Er tut das in weiten geistig-geistlichen Bögen philosophischer und theologischer, kirchengeschichtlicher und bibelwissenschaftlicher, psychologischer und soziologischer Art. Daß es bei so langen Abhandlungen zu Überschneidungen oder gar Redundanzen kommt, ist verständlich, lähmt aber keineswegs die Lust am Lesen.
Wer gern geisteswissenschaftliche Werke liest, wird seine Freude an Haliks Gedanken haben. Vor allem aber sind die einzelnen Betrachtungen nicht um ihrer selbst willen geschrieben, sondern zielen allesamt auf die Beantwortung der brennenden Frage, wie denn angesichts der gegenwärtigen Krise die Zukunft von Christentum und Kirche aussehen wird.
Die Metapher „Nachmittag des Glaubens“ hat Halik bei dem Psychiater Carl Gustav Jung (1875-1961) entlehnt. Jung vergleicht den Ablauf des menschlichen Lebens mit dem Ablauf eines Tages. Am „Vormittag des Lebens“, d.h. in seiner Jugend und im frühen Erwachsenenalter entwickelt der Mensch die Grundzüge seiner Persönlichkeit, am „Mittag“ hingegen, d.h. in seinen mittleren Jahren, gerät er in eine Krise, da sich jetzt das bisher verdrängte Unbewußte, sein „Schatten“ zu Wort meldet.
Diese Krise kann jedoch zu einer Chance werden, wenn der Mensch nicht auf die Aktivitäten des „Vormittags“ zurückfällt, sondern das Neu-Erkannte integriert. So führt der „Nachmittag des Lebens“, d.h. das Alter, zu neuer Tiefe und besitzt darum einen Eigenwert. – Halik nun überträgt diese Metapher auf das Christentum: Die augenblickliche Krise der Kirche bedeutet nicht das Ende des Christentums, sondern seinen „Mittag“. Jetzt kommt alles darauf an, die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen, um den „Nachmittag“ als erfüllte Zeit zu gestalten.
Wie aber sieht das konkret aus? Es ist mir nicht möglich, in einer notwendig begrenzten Rezension alle Impulse aufzugreifen, die Halik in Verbindung mit seinen Abhandlungen beschreibt. Ich beschränke mich darum auf jene Gedanken, die für uns als Oratorianer von großer Wichtigkeit geworden sind. Manches davon spiegelt sich in den „vier Säulen“, von denen unser oratorianisches Leben bestimmt ist.
Halik plädiert für eine radikale Öffnung der Kirchen – nicht nur im Sinne einer Ökumene der Konfessionen, sondern auch in der Zuwendung an die vielen Zeitgenossen, die von sich behaupten „ungläubig“ zu sein, tatsächlich aber eine tiefe Sehnsucht nach Lebenserfüllung in sich tragen. Diese Menschen können uns zu Partnern werden auf der Suche nach dem wahren Leben. Entfaltung einer christlichen Spiritualität ist darum eine vorrangige Aufgabe für den „Nachmittag“. Und „Neuevangelisierung“ bedeutet in diesem Zusammenhang die Suche nach dem „universalen Christus, dessen Größe oft durch die Begrenzheit unserer Sicht, durch unsere allzu engen Perspektiven und Gedankenkategorien verborgen gehalten wird“. Mehrfach spricht sich Halik für eine „geistliche Begleitung der Suchenden“ aus. Dies können aber die bisherigen Pfarrgemeinden nicht mehr leisten.
Von daher ist es notwendig, neue „spirituelle Zentren“ zu bilden. An solchen „Orten der Begegnung“ wird es möglich sein, „heilige Bücher“ zu lesen, d.h. über Texte von Schrift und Tradition zu sprechen und sie auf die „Zeichen der Zeit“ zu beziehen. Auch kann in solchen existentiellen Gesprächen die immer noch bestehende Diskrepanz zwischen Kunst und Religion aufgehoben werden, angesichts der Tatsache, daß Kunst und Kultur bis heute die christliche Spiritualität geprägt haben. „Ich bin überzeugt“, so faßt Halik zusammen, „daß nicht die territorialen Pfarrgemeinden, sondern vor allem die Zentren der Spiritualität und der geistlichen Begleitung die wichtigsten Brennpunkte des Christentums in der nachmittäglichen Epoche seiner Geschichte sein werden.“ Als „Avantgarde“ dieses Dienstes sieht Halik dabei die „kategoriale Seelsorge“, d.h. „den Dienst der Seelsorger in Krankenhäusern und Gefängnissen, in der Armee und im Bildungswesen und vielleicht auch in der geistlichen Begleitung von Menschen in den unterschiedlichsten schwierigen Lebenssituationen oder bei der Unterstützung derer, die einen ähnlich aufreibenden Dienst an anderen verrichten und denen ein Burnout droht.“
Soweit ein kurzer Einblick in ein prophetisches Buch. Denjenigen, die an der gegenwärtigen Krise der Kirche leiden und trotzdem als Christen in der Kirche bleiben möchten, seien die Betrachtungen Haliks wärmstens empfohlen.
Eberhard Thieme CO