Abrechnung mit Stalin – Schostakowitschs 10. Sinfonie im Leipziger Gewandhaus

Es war nicht das erste Mal, daß ich die 10. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch im Konzert erlebte. Als ich sie aber im Großen Konzert des Gewandhauses am 12. Januar 2024 hörte, ging sie mir so nahe, als sei es das erste Mal gewesen.

Bild: Gewandhaus in Leipzig

Dies mag an den Musikern des Gewandhausorchesters gelegen haben, die unter der Stabführung des souveränen und inspirierenden Dirigenten Alan Gilbert bereits bei Beethovens 8. Sinfonie zur Hochform aufliefen. Es könnte aber auch an der aktuellen politischen Situation in Europa gelegen haben, die den Vergleich zwischen Stalin und Putin nicht abwegig erscheinen läßt.

Denn um eine Abrechnung mit Stalin geht es in dieser 10. Sinfonie. Mit seiner 9. Sinfonie, geschrieben 1945, hatte Schostakowitsch – statt einer Hymne auf den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ – ein hintergründig-ironisches Werk geschaffen und war deshalb bei Stalin in Ungnade gefallen. Erst nach dem Tode Stalins im März 1953 konnte Schostakowitsch seine 10. Sinfonie schreiben; sie entstand innerhalb von fünf Monaten. Noch im selben Jahr, im Dezember 1953, wurde sie in Leningrad uraufgeführt.

In diesem knapp einstündigen Werk reflektiert Schostakowitsch seine Situation nach Stalins Tod. Der erste Satz, der allein die Hälfte der Sinfonie einnimmt, beschreibt die kulturelle Ödnis, welche die Diktatur Stalins hinterlassen hat. Es folgt im zweiten Satz eine erschreckende Darstellung der Person Stalins, und im dritten Satz die Selbsterkenntnis des Komponisten, in den politischen Zwängen gefangen zu sein. Und am Ende, im vierten Satz, begibt sich Schostakowitsch in einen geistigen Kampf mit Stalin, der zwar nicht in einen Sieg mündet, wohl aber das Selbstbewußtsein des Komponisten geschärft hat. Als Darstellung seiner selbst verwendet Schostakowitsch jeweils die Töne D-Es-C-H, seine Initialen.

Wenn es ein Detail gab, das mich besonders beeindruckt hat, so war es das Klarinettensolo im ersten Satz. Nach minutenlangen dumpfen Klagen der Streicher spielte die Klarinette plötzlich eine zwar melancholische, aber beherzte, hoffnungsvolle Melodie, die nach einigem Zögern vom gesamten Orchester aufgenommen wurde. Zwar verblaßte die Hoffnung wieder; doch blieb der Eindruck, daß selbst in äußerster Tristesse das Schöne heimisch sein kann. Der tapfere Ruf der Klarinette begleitete mich bis zum Ende der Sinfonie.

Eberhard Thieme