Neuer Filmtipp: „Lieber Thomas“

Einer der üblichen Historienfilme ist LIEBER THOMAS nicht, kein Biopic wie SELMA über Martin Luther King oder gar GANDHI über Mahatma Gandhi mit Tausenden von Komparsen und beeindruckenden Totalen.

LIEBER THOMAS ist aber auch nicht das Kammerspiel jenseits aller Außenaufnahmen und Massenszenen. Und da beginnt schon der erste geniale Coup von Regisseur Andreas Kleiner. Er dreht seine filmische Wanderung durch die Biographie von Thomas Brasch schlichtweg in Schwarz-Weiß.

Und man hat den Eindruck, dass dies auch aus dem Grund geschah, dass dadurch angefügtes Originalmaterial von Massen-Aufläufen zu DDR-Zeiten oder vom Einrollen der sowjetischen Panzer in Prag als Dokumentar-Material kaum wahrnehmbar ist. Es fügt sich alles ein.

Was passiert nun in diesen 150 Minuten von LIEBER THOMAS? Eigentlich alles und nicht genug. Episoden aus der Kindheit, wilden Jugend, Inhaftierung, Übersiedlung in den Westen und der traumhafte Schwenk in „Jenseits“ – alles ist in LIEBER THOMAS zu sehen und doch möchte man immer noch mehr sehen. Die Settings sind genau gebaut, nie oberflächlich und es ist ein Bilderbogen von 50 Jahren deutsch-deutscher Geschichte dabei gelungen.

Allerdings leicht konsumierbar ist LIEBER THOMAS nicht. Als Zuschauer wird man in die Tragik und Anspannung in der dieser Thomas Brasch steckte von der ersten bis zur letzten Filmminute mit hineingenommen. Und dabei ist das Spiel von Albrecht Schuch als Thomas Brasch einfach umwerfend und in seiner Vielfältigkeit in jeder Szene beeindruckend.

Manchmal hat man den Wunsch über den Revoluzzer Thomas Brasch doch mehr zu erfahren und spürt, dass es da auch eine ostdeutsche 68er-Generation gab. Allerdings nicht im Nach-Nazi-Konflikt, sondern im Konflikt mit den Revolutionären von früher. Da geht es um die Auseinandersetzung mit dem, was dieser Elterngeneration einmal wichtig war. „Marx hat gesagt, man müsse alles in Frage stellen“, sagt Thomas Brasch an einer Stelle im Film. „Ja, aber das hat Marx im Exil gesagt“, wird dann abgewiegelt.

Und dann bricht immer wieder dieser Vater-Sohn-Konflikt durch: Der Vater, der den eigenen Sohn an die Staatssicherheit verraten hat, aber auch seine Ausreise in den Westen möglich gemacht hat.

Ein Konflikt, der zum Bruch wird. Wie das Jörg Schüttauf als Vater Horst Brasch spielt, ist schon beeindruckend – da gibt es auch leise und berührende Töne, auch Stellen tiefer Verletztheit auf beiden Seiten.

Schön, dass in LIEBER THOMAS die Frauen nicht nur als Beiwerk und zur Ausschmückung gedacht sind: Ob das nun die Mutter Brasch, gespielt von Jana Schneider, oder Jella Haase als Lebensbegleiterin Katrin waren, auch andere Frauenfiguren haben Profil und interessieren. Und die Mahnung der Mutter, „fang doch mal an, Dich wie ein Mann zu benehmen“ wird fast zum Leitmotiv für den ganzen Film.

Alles in allem, LIEBER THOMAS ist fast eine fiktive Dokumentation deutsch-deutscher Geschichte.

Und das Beispiel von Thomas Brasch interessiert sowohl im Osten wie auch im Westen, denn auf beiden Seiten hat er Spuren hinterlassen. 

 

Thomas Bohne

Mitglied der Katholischen Filmkommission

 

LIEBER THOMAS

Deutschland 2021

Mit Albrecht Schuch und Jörg Schüttauf

Länge: ca. 150 Minuten

Kinostart: 11. November 2021

Download: Ausgabe11_2021-Film-Thomas