Wenn ein Bach-Fest unter dem Motto „Bach for future“ firmiert, öffnet das Tor und Tür für musikalische Experimente. Natürlich auch für Uraufführungen, was aber noch nichts über die Qualität derselben aussagt (wie es bereits die Peinlichkeiten im Eröffnungskonzert zeigten).
Auch im Kammerkonzert am Sonntagabend (11.Juni), das wie üblich im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses stattfand, gab es eine Uraufführung: das Musikstück „Lissabonleipzig“ der 26jährigen Portugiesin Mariana Vieira. Bei aller Wertschätzung ihres Künstlertums muß ich gestehen, daß ich die Komposition nicht verstanden habe. Auch ihre ausführlichen Erläuterungen im Programmheft konnten mir da keine Hilfe sein. Daß die Komponistin „Merkmale der Musik von J.S.Bach (im Besonderen) und der Barockmusik (im Allgemeinen) in einem neuen Licht betrachtet habe“, hat sich mir nicht erschließen können. Sind Geräusche und Sprachfetzen aus dem Lautsprecher schon „ein neues Licht“? Und wozu dann noch drei Instrumentalisten auf der Bühne, deren Spiel im Gelärm unterging? Zum Glück erwies sich die jugendliche Tonschöpferin äußerlich als sehr sympathische Gestalt, so daß sie nicht mit Buh-Rufen, sondern mit einem wohlwollenden, verhaltenen Achtungsapplaus bedacht wurde.
Nun, Mariana Vieira hat das Leben noch vor sich. Sollte sie das Alter der inzwischen 92jährigen Gewandhauskomponistin Sofia Gubaidulina erreichen, werden unsere Nachfahren vielleicht verständnisvoller über sie urteilen. Als Kontrast zu „Lissabonleipzig“ erklangen nämlich auch von Gubaidulina zwei Werke: eine Meditation über den Bach-Choral „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ (von 1993) und das Opus „Quasi hoquetus“ (von 1985). Dem ersten Stück merkt man ohne Weiteres an, daß sich die Komponistin mit J.S.Bach eingehend auseinandergesetzt hat. Das geht bis in die innere Struktur hinein (die Verfasserin des Programmheftes Julia Kiefner beschreibt sehr interessant die dem Werk zu Grunde liegenden Zahlenverhältnisse). Auch das zweite Stück atmet den Geist spiritueller Weite, wenngleich es nicht unmittelbar auf Bach bezogen war. Das Flageolett-Spiel der Streicher erinnerte mich vielmehr an die meditative Musik von Arvo Pärt. Zwei „Sternenstücke“ für alle, die die Moderne lieben…
Und über allem thront nun der unvergleichliche Johann Sebastian Bach. Von ihm brachte uns die „Sinfonietta Leipzig“ (ein seit 1996 bestehendes großartiges Ensemble) zwei Abschnitte aus dem „Musikalischen Opfer“ (von 1747) zu Gehör: das Ricercar zu 6 Stimmen und die Triosonate mit Canon perpetuus. Außerdem erklangen noch 6 Bachsche Canones, in der Bearbeitung des 68jährigen dänischen Komponisten Hans Abrahamsen (von 1994) für sieben Instrumente – ein durchaus gewöhnungsbedürftiges Experiment.
Womit wir wieder beim Anfang wären: Als Bach vor 300 Jahren in Leipzig seine ersten Kirchenkantaten aufführte, werden viele Zuhörer ihren Kopf geschüttelt haben. Wenn wir heute diesem oder jenem zeitgenössischen Werk verständnislos gegenüberstehen, sollten wir immer noch die Möglichkeit einräumen, daß es „for future“, für die Zukunft bestimmt ist.
Eberhard Thieme