Mahlers Religion

Ein Jubiläum abseits der Weltgeschichte, aber auch kein ganz unwesentliches: Vor ziemlich genau 125 Jahren, am 23. Februar 1897, ließ sich der jüdische Komponist Gustav Mahler (1860-1911) in der Hamburger St. Ansgar-Kirche taufen und wurde damit in die katholische Kirche aufgenommen.
Die meisten Musikhistoriker sind sich darin einig, dass dies aus politischem Kalkül heraus geschah. Ohne diesen klugen wohlüberlegten Schritt hätte Mahler niemals die Stelle als Hofoperndirektor im (erzkatholischen und damals schon antisemitisch geprägten) Wien antreten können. Mit religiöser Überzeugung hatte diese Konversion vermutlich nichts zu tun.
Leider muß ich den Experten darin rechtgeben; auch mir fällt keine bessere Erklärung ein. Allerdings darf daraus keineswegs geschlossen werden, daß Mahler ein areligiöser Mensch gewesen sei.

Wo aber ist Mahlers Religion verortet?
Könnte es nicht vielleicht doch sein, dass Mahler eine latente Sehnsucht nach dem Christlichen hatte? Seine Frau Alma behauptete jedenfalls, ihr Mann sei „christusgläubig“ gewesen. Aus Mahlers eigenem Munde kamen solche Worte jedoch nicht. Im Gegenteil: Als er von einem Künstler gefragt wurde, warum er denn – bei solch gewaltigen Chorwerken – „noch keine Messe“ geschrieben habe, schüttelte er den Kopf und sagte, er könne kein „Credo“ komponieren. Der dreieinige Gott blieb ihm zeitlebens fremd.
Oder war seine Konversion eine bewusste Abkehr vom Judentum? Man könnte dies annehmen, denn mit seiner jüdischen Herkunft fremdelte er stets. In der böhmisch-mährischen Diaspora, insbesondere in seiner problematischen Familie, konnte sich kein jüdisches Glaubensleben entwickeln, und als er bei einer Konzerttournee durch Osteuropa auf orthodoxe Juden traf, die ihren chassidischen Glauben öffentlich zur Schau stellten, staunte er nur und sagte: „Und mit denen soll ich verwandt sein?“ Biographisch belastete ihn sein Judentum sehr. Nicht aber religiös, denn er war kein gläubiger Jude. Insofern stellte seine Konversion auch keine Glaubensentscheidung dar.

Wenn aber das jüdisch-christliche Gottesbild für Mahler keine (oder nur wenig) Relevanz besaß: Wo stand er dann religiös?
Nun, der Ausgangspunkt für alles Religiöse sind existentielle Fragen wie die nach „Liebe“ und „Tod“. Wer diese Fragen aufgreift und über sich und die Welt hinausgeht, der bindet sich an ein Geheimnis, für das es keinen besseren Namen gibt als „Gott“. In diesem Sinne war Gustav Mahler ein leidenschaftlicher „Gottsucher“. Seine „Dogmatik“ fand er in den philosophischen Schriften von Friedrich Nietzsche, Theodor Fechner, Siegfried Lipiner oder in den Gedichten von Friedrich Rückert. Auch Goethe darf in der Aufzählung nicht fehlen.
Mit dieser „Misch-Religion“ setzte sich Mahler natürlich „zwischen alle Stühle“ der angestammten Religionen. Er blieb Einzelkämpfer; eine Glaubensgemeinschaft wurde ihm nicht zuteil. Diese Zerrissenheit drückte er mit dem Bonmot aus: „Ich bin dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.“ Nicht ohne Grund wurde Mahler mit dem legendären „Ahasver“ verglichen: dem in der Welt ewig-umherirrenden Juden.

Die Mahlersche Religion – man mag über sie denken, wie man will – spiegelt sich in seiner Musik. Auch dort eine abgrundtiefe Zerrissenheit; aber so ehrlich, dass sie dem aufmerksam Hörenden an keiner Stelle die Wahrheit entzieht. Wer sich auf diese ungewöhnliche Musik einlässt, für den kann zwischen allen Brüchen und Rissen ein Licht aufscheinen, das nicht mehr von dieser Welt ist – ein göttliches Licht.

 

Eberhard Thieme CO