Nach langer Zeit war ich am 13. Oktober wieder einmal zum Großen Konzert im Leipziger Gewandhaus.
Als ich von meinem Stammplatz unter der Orgel in die Runde schaute, konnte ich eine Menge weinrotes Polster bewundern. Mit anderen Worten: Es gab ungewöhnlich viele leere Plätze. Was war geschehen?
Nun, das Programm sah ausschließlich Werke aus der Mitte des 20. Jahrhunderts vor, und das ist für die meisten Konzertgänger immer noch gewöhnungsbedürftig. Schade eigentlich…
Ich hatte dieses Konzert bewußt gewählt; denn der angekündigte Dirigent bürgte für Qualität: Ingo Metzmacher. In seinem nicht mehr ganz jungen Leben hatte er schon mehrfach unter Beweis gestellt, daß er – ähnlich wie Hermann Scherchen vor knapp 100 Jahren – nicht nur für die klassische Moderne glüht, sondern daß er auch fähig ist, die mitunter schweren Stücke adäquat umzusetzen.
An jenem Abend erklangen Werke, die in „innerer Emigration“ entstanden. Das galt vor allem für das 2. Sinfonische Poem von Galina Ustwolskaja (1919-2006) und für die 4. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch (1906-1975). Interessanterweise hatten die beiden Künstler eine prickelnde Beziehung: Ustwolskaja war Schülerin von Schostakowitsch und mit ihm auch privat eng verbunden. Wie eng – das muß der Gerüchteküche überlassen bleiben. Jedenfalls schätzte Schostakowitsch die Musiksprache der Ustwolskaja sehr hoch, sie umgekehrt aber die seinige überhaupt nicht. Schostakowitsch sollte weniger schreiben, meinte sie. „Man kann in so einem Meer von Werken nichts Neues mehr sagen.“ Wie gut, daß sich Schostakowitsch nicht daran gehalten hat; denn in seinen Werken findet sich immer etwas Neues, z.B. daß er in seiner 4. Sinfonie erstmalig zwei Harfen eingesetzt hat und an mehreren Stellen seine geistige Verwandtschaft zu Gustav Mahler betont.
Galina Ustwolskaja ist sich allerdings auch selbst treu geblieben: Äußerst kritisch gegenüber ihren eigenen Werken, hat sie nur diejenigen gelten lassen, die sie als absolut authentisch ansah. Dadurch sind von ihr insgesamt nur 25 Werke erhalten. Zum Glück hat sie ihr 2. Sinfonisches Poem nicht vernichtet; es ist Musik aus der Tiefe einer traurigen Seele.
Was für Ustwolskaja und Schostakowitsch unter dem Stalin-Regime galt, nämlich die Gratwanderung zwischen Wahrhaftigkeit und künstlerischer Anerkennung, galt in gewisser Weise auch für den Münchner Karl Amadeus Hartmann (1905-1963). Weil er gegen das Nazi-Regime opponierte, schrieb er die meisten seiner Sinfonien für die Schublade, so daß sie erst nach dem 2. Weltkrieg uraufgeführt werden konnten. Die „Gesangsszene für Bariton und Orchester“, die im Konzert mit Matthias Goerne eindrucksvoll erklang, hatte Hartmann allerdings erst 1963 geschrieben. Es ist sein „Schwanengesang“: Er konnte das Werk nicht mehr vollenden, weil der Tod dazwischentrat. Vom Tod, ja, sogar vom Ende der Welt handelt auch dieser Gesang. Das paßte (bei der Uraufführung 1964 in Frankfurt/Main) nicht unbedingt in die Zeit der „Wirtschaftswunder“. Heute trifft die Botschaft umso mehr…
Ich bin keine Experte für musikalische Interpretation, kann aber sagen, daß mich alle drei Werke tief berührt haben. Sollte Ingo Metzmacher nicht erst in 18 Jahren, sondern schon früher ins Gewandhaus kommen, würde ich gern wieder zu seinen Füßen sitzen.
Eberhard Thieme