Mit Mahlers 6. Sinfonie fing alles an: Im Januar 1985 bekam ich eine Konzertkarte für das Gewandhaus geschenkt. Da ich damals nicht in Leipzig lebte, freute ich mich, das neuerrichtete Gewandhausgebäude in Augenschein nehmen zu können. Was auf dem Programm stand, war für mich dabei zweitrangig. Es sollte etwas von einem Komponisten gespielt werden, den ich damals nur dem Namen nach kannte: Gustav Mahler. Etwas Modernes also. Meine Erwartungen lagen deshalb nicht allzu hoch.
Doch dann geschah das Unglaubliche: Die komplexen Melodien der 6. Sinfonie von Gustav Mahler breiteten sich in mir aus wie ein „Klangteppich“, und ich war noch tagelang davon gebannt. Etwas Existentielles hatte mich eingeholt.
Bisher waren meine musikalische Vorlieben fast ausschließlich auf Johann Sebastian Bach fokussiert gewesen; bestenfalls die „drei großen B“ (Beethoven, Brahms und Bruckner) ließ ich noch gelten. Mahlers 6. Sinfonie (und in der Folge auch alle anderen Werke Mahlers) haben für mich nun dankenswerterweise eine nicht unerhebliche Horizonterweiterung bewirkt: Die Erfahrung, daß es sich lohnt, die klassische Moderne zu entdecken.
Etliche Male habe ich seitdem Mahlers 6. Sinfonie gehört – im Konzertsaal, im Radio und neuerdings auch auf „YouTube“ -, und sie hat mich jedes Mal tief berührt. In diesen gerade einmal 75 Minuten spiegelt sich das gesamte menschliche Leben: unser Alltag, der manchmal beschwingt, manchmal stressig daherkommt; die ekstatischen Lichtinseln, die man gern festhalten möchte; aber auch die Schrecknisse und Schicksalsschläge, die wie ein schwerer Hammer auf uns niedersausen können – kurz: alles Schrecklich-Schöne.
Am 20. April 2023, noch vor dem Beginn des (wegen der Corona-Pandemie verschobenen) „Mahler-Festivals“, hörten wir die 6. Sinfonie von Gustav Mahler im dichtgefüllten Saal des Leipziger Gewandhauses mit dem Gewandhausorchester unter Leitung des österreichischen Dirigenten Franz Welser-Möst. Es war erneut eine „Sternstunde“.
Eberhard Thieme