Neues muß kommen

Mit der Schwülstigkeit der Spätromantik konnte es nicht so weitergehen. Neues mußte kommen. Und tatsächlich beschritten die Komponisten an der Schwelle des 20. Jahrhunderts neue Wege, wenngleich sehr unterschiedliche.

Zwei dieser Wege konnten in den Gewandhaus-Konzerten der vorigen Woche aufgezeigt werden.
Der Franzose Maurice Ravel (1875-1937) begann mit einem zartblühenden Impressionismus und stellte sich hinfort den Umbrüchen in der europäischen Gesellschaft. Diese Entwicklung ließ sich gut nachverfolgen. Am Beginn des Konzertes standen die vertonten Märchenerzählungen „Ma mère l’oye“ von 1911; dann aber erklang sein 2. Klavierkonzert von 1932. In letzterem Werk wird ein geheimnisvolles Adagio von zwei vitalen Ecksätzen umrahmt, welche sich bis ins Jazzartige steigern. Der junge Südkoreaner Seong-Jin Cho wurde dem Klavierpart, insbesondere dessen Gegensätzen, vollauf gerecht.

Der Ungar Bela Bartok (1881-1945) hingegen setzte auf die Volkstänze seiner Heimat. In seinem letzten Großwerk, dem „Konzert für Orchester“ von 1943, konnten die Tänze mühelos herausgehört werden. Bartok befand sich damals im amerikanischen Exil. Eine schwere Schaffenskrise verhinderte das Komponieren, und hätte es nicht das Boston-Sinfonieorchester mit seinem legendären Dirigenten Serge Koussevitzky gegeben, welcher ihn zu diesem Konzert inspiriert hatte, wäre Bartok vermutlich bis zu seinem Tod als Komponist sprachlos geblieben. So aber entstand ein Opus, das es ins feste Repertoire der Orchester geschafft hat.

Statt des erkrankten Dirigenten stand eine junge französische Dirigentin namens Marie Jacquot am Pult und überzeugte mit ihrer charmanten, emphatischen Führung. Dirigentinnen gehören glücklicherweise inzwischen zur Normalität. Auch daß ein Großes Konzert ausschließlich aus Werken des 20. Jahrhunderts besteht, ist keine Seltenheit mehr.
Der langanhaltende Beifall gab diesen Tatsachen recht.
Das Neue ist gekommen…

Eberhard Thieme